01. September 2023, Rotenburger Kreiszeitung/Visselhöveder Nachrichten
Kampf oder Flucht
VON TOM GATH
Polizeiausbilder Tobias Remus zeigt Frauen und Mädchen, wie sie Ge- walttätern gegenüber treten können. In seinem Kurs an der Volkshoch- schule geht es aber nicht nur ums Kämpfen. Wie wichtig es sein kann, sich rechtzeitig Hilfe zu holen, weiß auch die Leiterin des Rotenburger Frauenhauses.
Rotenburg – Hände hochnehmen, geradeaus gucken und „gestikulieren wie die Italiener“ – das rät Polizeiausbilder Tobias Remus Frauen, sollten sie ein- mal in eine bedrohliche Situation geraten. Ab dem 13. September bringt er an zehn Abendterminen an der Rotenburger Volkshochschule Frauen und Mädchen bei, wie sie Gefahren erkennen und sich im Fall der Fälle effektiv zur Wehr setzen.
„Für viele Kursteilnehmerinnen ist es eine wahnsinnige Überwindung, mal richtig zuzuschlagen. Das trainieren wir ab“, sagt Remus, der den Kurs schon
mehrfach in Walsrode und Soltau angeboten hat. Den Kampf gegen physisch oft überlegene Männer könnten Frauen zwar nur schwer für sich entschei- den, doch meist reiche es schon aus, drei bis fünf Sekunden Zeit für eine Flucht zu gewinnen. Außerdem ist sich Remus sicher: „Bei der kleinsten Ge- genwehr ziehen fremde Täter oft weiter. Das ist wie beim Einbrecher, der ein offenes Fenster sieht.“
Die vom Brazilian Jiu-Jitsu oder dem chinesischen Wing Chun inspirierten Kampftechniken, die Remus gemeinsam mit einer weiblichen Assistentin den Frauen zeigt, sollen ohnehin eher zur Steigerung des Selbstbewusstseins bei- tragen, denn „nach zehn Kursterminen wird niemand zu einer Kampfma- schine.“ Und Remus betont: „Selbstverteidigung kann auch bedeuten, sich bemerkbar zu machen und Hilfe zu holen, aber dafür muss man Gefahrensi- tuationen frühzeitig erkennen.“
Deshalb wird in seinem Kurs nicht nur mit Fäusten und Alltagsgegenständen gekämpft, sondern auch viel gesprochen. Die Teilnehmerinnen sollen lernen, sich zu offenbaren, und können auch ihre bisherigen Erfahrungen mit Über- griffen schildern. Viele Frauen, die in Remus Seminare kommen, haben in ih- rem Leben bereits Gewalt erlebt. Sein eindrücklichstes Beispiel: „Eine Teil- nehmerin war 68 Jahre alt und hat lange in einer gewaltvollen Beziehung ge- lebt. Sie kam zum Kurs, weil sie sich nie wieder von Männern schlagen lassen wollte.“
Laut dem Bundesministerium für Frauen wird jede dritte Frau in Deutsch- land mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder se- xualisierter Gewalt. Häufig finden diese Übergriffe hinter verschlossenen Tü- ren innerhalb der eigenen Partnerschaft statt. Dass diese Gewalt grundsätz- lich jede treffen kann, weiß auch Janina Riepshoff, die das Frauenhaus und die „Beratungs- und Interventionsstelle bei häuslicher Gewalt“ (Biss) vom Landkreis Rotenburg seit anderthalb Jahren leitet: „Das zieht sich durch alle Schichten. Wir haben Fälle mit jungen Erwachsenen bis hin zu Seniorinnen, deren Partner zum Beispiel aufgrund einer Demenz übergriffig werden.“ Die Zahl der Hilfe suchenden Frauen sei im Landkreis Rotenburg zwar recht sta- bil, doch die 34-jährige Riepshoff und ihre vier Kolleginnen haben es immer häufiger mit massiven körperlichen Übergriffen zu tun, die mitunter auch le- bensbedrohlich werden können.
Wie im öffentlichen Raum sei es auch bei häuslicher Gewalt entscheidend, gefährliche Situationen rechtzeitig zu erkennen. „Gerade in Partnerschaften gibt es immer ein „davor“. Am Anfang gibt die Beziehung den Frauen etwas, zum Beispiel, wenn der Partner sie überall hin begleitet. Aber nach ein paar Monaten merken sie, dass sie gar keinen Freiraum mehr haben. Die Zunei-
gung ist dann kein Interesse mehr, sondern Kontrolle“, beschreibt Riepshoff ein Beispiel, wie sich Gewalt entwickeln kann. Die Biss bietet bereits in die- sem Stadium Unterstützung an, um präventiv zu wirken. Auch Männer, die Opfer von Gewalt werden oder eine Vermittlung an eine Täterberatungs- stelle wünschen, können sich an die Biss wenden.
Den Grund, warum häusliche und sexualisierte Gewalt überwiegend von Männern ausgeht, sieht Riepshoff in historisch gewachsenen Geschlechter- rollen: „Das hat nichts mit körperlichen Merkmalen zu tun. Wie Männer mit Frauen umgehen, das zieht sich durch die Jahrhunderte und das versuchen wir an bestimmten Stellen, aufzuweichen. Da sind wir auch schon wesentlich weiter als früher, aber um diese Ungleichheit abzuschaffen, braucht es noch viel Zeit und Präventionsarbeit, zum Beispiel an Schulen.“
Der Kursleiter Remus glaubt außerdem, dass die Justiz viel zu schwach sei und sich das rumspreche. „Der Abschreckungseffekt wird weniger“, sagt Re- mus, der 20 Jahre bei einer Spezialeinheit der Bundespolizei gearbeitet hat und unter anderem fünfmal in Afghanistan war, um dort Polizisten auszubil- den. Auch er würde gerne präventiv mit Männern arbeiten, um die Verant- wortung für den Schutz vor Übergriffen nicht allein den Frauen aufzubürden: „Viele Männer glauben, wenn eine Frau einen kurzen Rock anzieht, dann ist sie ein Selbstbedienungsladen.“ Mit Angeboten an einer Volkshochschule er- reiche er die Gruppe der potenziellen Täter aber nicht.
„Das Beste wäre, wenn wir meinen Kurs gar nicht bräuchten“, bedauert Re- mus. Da es aber noch ein langer Weg ist, bis die patriarchale Mentalität und die davon ausgehende Gewalt in der Gesellschaft überwunden ist, bietet der erfahrene Kampfsportler weiterhin sein Angebot für Frauen und Mädchen ab 14 Jahren an den Volkshochschulen der Region an.
Vorerfahrung oder Fitness sind für eine Teilnahme nicht notwendig. Die wichtigsten Utensilien zur Verteidigung hätten die meisten Frauen laut Re- mus ohnehin ständig bei sich: „Handy, Kugelschreiber, Gürtel oder Handta- sche: Das ist eigentlich alles, was man braucht.“ Und ein bisschen Selbstbe- wusstsein sowie den Mut, um Hilfe zu bitten – zum Beispiel bei anderen Menschen auf der Straße oder im Rotenburger Frauenhaus.